Modulare und dezentral gesteuerte fertigungstechnische Anlage
Beschreibung des Demonstrators:
Anhand einer modular aufgebauten fertigungstechnischen Anlage an der Helmut-Schmidt-Universität werden Industrie 4.0-Produktions- und Logistikszenarien erlebbar. Auf dieser modularen Produktionsanlage werden mit Hilfe von sieben Bearbeitungsstationen Zylinder und Thermometer kundenindividuell geplant, produziert, gelagert und kommissioniert.
Klassische Produktionsanlagen werden zentral gesteuert. Das bedeutet, dass aufbauend auf einem umfangreichen und komplexen Plan zentral koordiniert wird, wann welche Maschine welche Aufgabe zu erfüllen hat. Im Falle von Störungen weist eine solche zentrale Koordination häufig wenig Flexibilität auf, wodurch die vorhandenen Pläne und Koordinationsmechanismen schnell unbrauchbar werden.
Die modulare Produktionsanlage basiert auf einer dezentralen Steuerungsarchitektur. Dadurch ist jede Bearbeitungsstation in der Lage, sich unabhängig vom Gesamtsystem selbst zu steuern, sich eigenständig zu vernetzen und in Echtzeit produktionsrelevante Daten auszutauschen. Sie kann sich im Falle von Störungen oder neuen Anforderungen an die Produktionsanlage somit schnell an die Änderungen anzupassen.
Durch diese dezentrale Datenhaltung werden die Werkstückträger, auf denen die zu produzierenden Produkte transportiert werden, zu sogenannten Cyber-Physischen Systemen, ein Kernelement der Zukunftsvision Industrie 4.0. Cyber-Physische Systeme sind intelligente Objekte, die sich mit ihrer Umwelt vernetzen können und die Fähigkeit besitzen, sich eigenständig durch ihren Produktionsprozess zu steuern. Sie sind eindeutig identifizierbar, lokalisierbar, kennen ihre Produktionshistorie, ihren aktuellen Zustand sowie alternative Wege zum Zielzustand.
Erfolgt der Transport von einem Werkstück zu einer Bearbeitungsstation, so werden dort die relevanten Daten ausgelesen, entschieden, ob und in welcher Form eine Bearbeitung stattfinden soll und nach erfolgreicher Bearbeitung die Daten auf dem RFID-Chip über das Produkt aktualisiert.
Somit manövrieren die Werkstückträger eigenständig die Produkte entsprechend der Produktionsanforderungen durch die Produktion. Der Einsatz der RFID-Technologie ermöglicht dabei, dass jegliche Datenübermittlung zwischen Werkstückträger und Bearbeitungsstation kontaktlos erfolgt.
Durch die angewendeten Konzepte und die verwendeten Technologien ergeben sich u.a. folgende Vorteile:
- Die dezentrale Steuerungsarchitektur ermöglicht eine vereinfachte flexible Anpassung des Produktionssystems an neue Herausforderungen. Es wird nicht mehr zwingendermaßen ein zentrales System benötigt, dass die Koordination der Bearbeitungsstationen verantwortet. Somit können neue Bearbeitungsstationen ähnlich dem Plug & Play-Prinzip, wie es aus der Computerindustrie bekannt ist, integriert bzw. wieder entfernt werden.
- Das Produktionssystem wird robuster. Störungen innerhalb des Betriebsablaufs haben keine Auswirkungen mehr auf das Gesamtsystem, sondern sind räumlich auf die jeweilige Bearbeitungsstation begrenzt. Trotz vorhandener Störungen kann eine Bearbeitung der Bauteile an den nicht die Störung betroffenen Bearbeitungsstationen stattfinden.
- Die dezentrale Speicherung der auftragsbezogenen Daten direkt auf dem transportierenden Werkstückträger und die damit einhergehende Verbindung des physischen Materialflusses und des Informationsflusses ermöglicht eine Flexibilisierung des Materialflusses. Änderungen in der Reihenfolge der Bearbeitung können einfach durch eine manuelle Neuanordnung der Werkstücke vorgenommen werden. Zudem ist das Werkstück in der Lage, sich selbstständig dynamisch den Gegebenheiten anzupassen und alternative Routen zu wählen, die schnellstmöglich zum Ziel führen.
Der modulare Aufbau, die systematische Vernetzung und die dezentrale Steuerung zeigen, wie innovative und moderne Fertigungstechnik im Zusammenhang mit Industrie 4.0 aussehen kann und wie selbst Einzelstücke wirtschaftlich hergestellt werden können.
Ablauf des Produktionsprozesses sowie die Vorteile der dezentralen Steuerung und des modularen Aufbaus:
Die Produktion von kleinen Pneumatik-Zylindern und Thermometern erfolgt durch insgesamt sieben Bearbeitungsstationen, die über ein Förderband miteinander verbunden sind und auf Werkstückträgern transportiert werden.
Zur Produktion werden, ausgehend von einem individuellen Kundeauftrag, zunächst alle produktionsrelevanten Daten zur Erfüllung des Auftrages auf einem RFID-Chip gespeichert. Dieser RFID-Chip ist direkt in einem Werkstückträger integriert, der die zu bearbeitenden Zylinder durch den gesamten Produktionsprozess leitet. Der Werkstückträger weiß somit, wann welcher Bearbeitungsschritt durchzuführen ist und welche Spezifikationen dazu an die jeweilige Bearbeitungsstation übertragen werden müssen. Somit bilden die RFID- Chips in Kombination mit den Werkstückträgern das Herzstück der Anlage, denn durch sie erfolgt nicht nur der physische Transport der Werkstücke, sondern auch die Steuerung des Produktionsprozesses, losgelöst von einem zentralen Koordinationssystem.
Nach erfolgreicher Beschreibung des RFID-Chips, navigiert der Werkstückträger eigenständig zur ersten Bearbeitungsstation. An dieser wird die Grundform des Zylinders bereitgestellt. Dazu übermittelt er der Bearbeitungsstation, welche Farbe dieser Grundform benötigt wird. Sofern diese zur Verfügung steht, wird sie an den Werkstückträger übergeben und auf dem RFID-Chip vermerkt, wann diese Auslieferung stattgefunden hat. Somit lässt sich auch im Nachhinein detailliert nachvollziehen, wann welcher Bearbeitungsschritt des Produktionsauftrages durchgeführt wurde.
Im nächsten Schritt, an einer separaten Bearbeitungsstation, erfolgt die Anpassung in Form von Bohrungen der Grundform, so dass in einem späteren Schritt weitere Komponenten passgenau eingesetzt werden können. Auch für diese Anpassungen trägt der RFID-Chip die entsprechenden Informationen, die an die Bearbeitungsstation übertragen werden und nach erfolgreicher Bearbeitung durch die Bearbeitungsstation mit einem Zeitstempel quittiert wird.
Diesem Produktionsschritt folgt eine Qualitätskontrolle. An der dritten Bearbeitungsstation wird mittels Bildverarbeitung überprüft, ob die zuvor durchgeführten Bohrungen korrekt ausgeführt wurden. Ist dies der Fall, so wird dem Werkstückträger mitgeteilt, dass nun der nächste Bearbeitungsschritt durchgeführt werden kann. Andernfalls wird in Abhängigkeit der Höhe der Abweichungen entweder die Notwendigkeit einer Nacharbeit oder der Ausschleusung des Werkstückes aus dem Produktionsprozess übermittelt. Der Werkstückträger ist nun eigenständig in der Lage, entsprechend der erhaltenen Rückmeldung, den nächsten Schritt innerhalb der Produktion anzufahren. Durch dieses Beispiel kann verdeutlicht werden, dass durch die dezentrale Informationshaltung der produktionsrelevanten Daten direkt am Werkstück, ein dynamischer Produktionsprozess ermöglicht wird, der sich eigenständig flexibel den gegebenen Bedingungen anpasst.
Eine weitere Besonderheit dieser Art der dezentralen Informationshaltung und Produktionssteuerung ist die Flexibilität in der Reihenfolgeplanung. Änderungen in der Reihenfolge der Bearbeitung können einfach durch eine manuelle Neuanordnung der Werkstückträger vorgenommen werden. Eine manuelle Anpassung innerhalb eines zentralen Koordinationssystem ist somit nicht notwendig, wodurch die operativen Tätigkeiten stark vereinfacht werden und eine potenzielle Fehlerquelle eliminiert wird.
Im Anschluss an die Qualitätskontrolle erfolgt planmäßig die vollständige Montage der Zylinder oder Thermometer. Dies erfolgt durch einen Montageroboter, der entsprechend der erhaltenen Informationen des RFID-Chips die bearbeitete Grundform mit den verbleibenden Komponenten verbindet und somit den Produktionsauftrag finalisiert.
Schließlich entscheidet der Werkstückträger entsprechend der zuvor festgelegten Auslieferungszeit, ob der fertige Zylinder nun eingelagert oder aber direkt ausgelagert werden soll.
Eine Besonderheit dieser fertigungstechnischen Produktionsanalage ist ihr modularer Aufbau. Jede Bearbeitungsstation beinhaltet alle Komponenten, die es zur Ausführung ihrer Funktionalitäten benötigt und ist somit unabhängig von einer zentralen Steuerungseinheit. Auch eine informationstechnische Anbindung an ein zentrales System zur Übertragung von Informationen ist durch die dezentrale Informationshaltung auf den RFID-Chips und die Produktionssteuerung durch die Werkstückträger nicht notwendig. Man spricht hierbei von einer losen Kopplung der Bearbeitungsstationen. Dies ermöglicht eine einfache Skalierbarkeit des Gesamtsystems in Bezug auf die Systemleistung, denn durch die lose Kopplung wird eine schnelle Integration neuer Module bzw. ein Austausch bestehender Module ermöglicht. Somit kann das Gesamtsystem flexibel an sich dynamisch ändernde Anforderungen angepasst werden und bspw. Auftragsspitzen durch das Hinzufügen neuer Bearbeitungsstationen abgefangen werden.